Lisa Spalt
Auszüge aus: Monstera 15,99
Um uns herum tobt eine verworrene Sache mit Scheinen, und so haben wir uns in dieses ehemalige Bau- und Gartenparadies geflüchtet, das uns zu einem Synonym für Luxus geworden ist. Hier erzählen wir bei Cocktails amüsante Geschichten – Kunstpack eben. Doch experimentieren wir beim Erzählen immerhin mit einem Modell, das auch Nützlichkeit ermöglichen könnte. Es wird, ohne bisher als solches erkannt worden zu sein, im Decamerone von Giovanni Boccaccio erwähnt: Ein betrügerischer Notar, der sein Leben der Gemeinheit gewidmet hat, liegt auf dem Sterbebett. Der Mann ist als Fremder in Gefahr, nach seinem Tod außerhalb des Friedhofs verscharrt zu werden. In seiner Perfidie lässt er nach einem Beichtvater schicken und belügt diesen so gewandt über seine Vergangenheit, dass der Priester den Verstorbenen vor der Gemeinde in den höchsten Tönen lobt. Viele Menschen ändern in der Folge ihr Leben. Unsere Strategie wird es nun sein, nach diesem Vorbild die erlogene Biografie als Modell auf dem Weg zu einer lebbaren Welt anzusehen; die Geschichten, die in die Gegenwart geführt haben, umzuschreiben, damit sie in eine andere münden.
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Gerade hatte sich im Zuge der Erderwärmung, eine neue Art von Flöhen ausgebreitet. Man sprach von Rumors und wisperte von Menschen, die von diesen regelrecht besessen wären. In einer ersten Phase hielten die Befallenen alle anderen für Unbekannte. Sie behaupteten, die – wie sie sie nannten – Platzhalter hätten es auf ihre Flöhe abgesehen, welche aber nur sie selbst wegen deren winziger, also beinahe Nichtexistenz mit feinen Finanzinstrumenten liebkosen könnten. Lernten die Besessenen die Unbekannten näher kennen, misstrauten sie gemeinsam mit ihnen den noch Unbekannteren, bekämpften diese und entzweiten sich dabei mit den ersten Nummern, sodass sie erneut Unbekannte wurden. Bald predigten die Berechnenden, als welche sich die Besessenen selber zu bezeichnen beliebten, ein einziges Gesetz durchwalte Mathematik und Natur. Sie verwahrten sich gegen Wissenschaftlerinnen, die das Wort Ungeziefer von der Ziffer herleiteten und nicht müde wurden, zu vermelden, es meine etwas, das im Übermaß vorhanden sei. Angesichts solcher Ketzereien blieb den Gläubigern nur, ein mathematisches Äquivalent zum Kreuzzeichen zu schlagen. Sie monierten, die Anzahl der Flöhe wäre ganz im Gegenteil immer zu klein. Manna, riefen sie, es klang wie Money. Bald verwechselten sie Bugs[i] mit Bucks[ii] und sprachen in den höchsten Tönen vom Flohmarkt. Gerüchte für Gerüche haltend, von denen sie glaubten, sie seien der Vermehrung der Flöhe günstig, marschierten sie in Form von Mengen ein in Gebiete, die ihre Regierungen als unrein bezeichnet hatten. Sie sagten, dort wohnten schmutzige Leute, welche die Parasiten an sich saugen ließen. Tatsächlich hatten unsere nicht umsonst so genannten Staatslenker in den betreffenden Regionen vor Jahren ein paar Schalter umgelegt und versorgten die Duschköpfe der Bevölkerung mit Abwässern aus brackigen Lachen, während die heimischen Wirtschaften, die uns als Fremde unter großem Hallo mit Wodka[iii] oder Eau de vie[iv] willkommen hießen, mit lupenreinen Liquiditätsreserven beliefert wurden. Der heimischen Allgemeinheit hatte man im Austausch Kies oder Schotter versprochen, und der Jubel der Menschen, die ahnten, dass sie sich die Armut ersparten oder erwarben, war, wie von den Spekulierenden erwartet, überbordend gewesen. Unterdessen hielten die anrückenden Militärs, die ihre von den Parasiten okkupierten Blutsverwandten verlassen hatten, sich gegenüber den vor der zunehmenden Versumpfung ihres Landes Flüchtenden für überlegen und bezeichneten diese verächtlich als Ströme. Stolz machten sie sich daran, ihren Flöhen neue Lebensräume zu erobern, und glaubten, die Tiere im Sinne von Franken[v] oder Fünflibern[vi] – kurz: im Sinne unbezahlbarer Freiheit – in ihren Röcken mitzubringen. Unter Livres verstanden sie einerseits die Bücher, in die sie derlei Werte eintrugen, andererseits ihr Vermögen, ihre Potenz selbst. Tatsächlich waren die Blutsauger in den Taschen der Soldaten, deren Bezeichnung gern mit der Solidität barer Münze in Verbindung gebracht wurde, wenn man nachsah, nie zu finden. Man bekam sie nur zu Gesicht, wenn ihre Kurse bei ihren parabelförmigen Sprüngen fielen. Ein paar findige Köpfe verlegten sich daher darauf, auf die in der Abwärtsbewegung aufflackernden Scheinchen Wetten abzuschließen. Und so begannen wir, während wir uns ganz nebenbei an die Behauptung gewöhnten, dass für uns unauffindbare Werte die wichtigsten seien, den schlimmsten denkmöglichen Fall als Glücksfall zu verstehen.
Der Kreislauf von Pessimum – so die offizielle Bezeichnung der damit eingeführten neuen Währung, die auf dem Standard des Grant basierte und deren Neuheit vor allem darin bestand, dass in ihr erstmals Produktionsmittel und Produkte verschmolzen, wurde in nahezu bewundernswerter Weise geschlossen. Man hielt die Einswerdung für eine den Zeitstrahl beugende Leistung, die eine neue Kulturstufe bezeichnen musste. Gut kalkulierte Erzählungen sollten das damit anbrechende Zeitalter der Miesen betonieren, indem ihre Auswirkungen nur, wenn sie der nachhaltigen Produktion des von der Heimatpartei so genannten Schlechtons dienten, von uns zugelassen wurden. Eine von unsichtbarer Hand verordnete, aber lückenlos rückwärtsgewandte, dystopische Geschichtsschreibung lieferte für den wuchernden Komplex ineinandergreifender Übel die Modelle. Ich selbst verschmolz eines Tages mit einem jungen Dealer aus einer Vorabendserie. Gekonnt trug ich die Herablassung von Leuten zur Schau, die blutige Verbrechen begehen und mit ihrem streng auf den Horizont der Apokalypse gerichteten Blick durch Menschen, die keine Narben von Schnellschüssen vorweisen können, hindurchsehen. Bald handelte ich mit den heißesten Performern der Szene. Erst stellten wir den Markt dar, dann errichteten wir Stände. Wir verwandelten unsere Gesellschaft in eine mit beschränkter Haftung und bezeichneten das ganze Theater am Ende frech als Parlament[vii]. Damit war die Intrige perfekt. Von unseren Talenten beeindruckt, entschied das Militär, uns als hauptberufliche Storyteller anzustellen, die die phantastischsten Szenarien für zukünftige Kriege erdichten durften. So kam es, dass wir Regie führten im Falle der Folterungen von Abu Ghraib, welche unsere Fernsehserie 24 Hours zum Vorbild hatten. War das Schreckgespenst einer weltweiten Depression bisher nur in unseren Träumen aufgetreten, konnte es jetzt über Emissionen, welche mit nur auf dem Papier stehenden Gewinnen in Zusammenhang gebracht wurden, auf die Welt losgelassen werden. Die gesamte, nach dem Pessimum süchtige Welt wurde mit der giftigen Lösung, die man als Ausweg bezeichnete, versorgt, das Schlucken von Kröten wurde zu einer Frage der Ehre.
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Bin in einem Baumart gelandet, einer der Filialen der schicken Bau- und Gartenparadiese, aus deren Namen noch kürzlich das K entfernt worden ist, um sie gemäß dem Zeitgeist mehr nach Kunst und gleichzeitig grüner klingen zu lassen. Vor wenigen Tagen noch bot die Leitung unter der geodätischen Kuppel im Rahmen des mittäglichen Einkaufs halsbrecherische Aktionen oder Performances. So regte man die Einkaufenden dazu an, ihren Schicksalsgenossinnen Eigenschaften zuzulächeln, auf dass sie diese selbst zugelächelt bekämen. Dadurch konnte man im Handumdrehen Gemeinschaft produzieren. Jeder Mundwinkel einer glücklichen Kundin, die in den Händen der anderen ihre Love Brand erblickte, entpuppte sich als Besteck der Schönheitschirurgie, mit dem wir am Antlitz der Menschheit herumschnitzten. Jeder bepreiste Baum wurde zum Zaunpfahl, jede menschliche Eigenschaft zum Artikel. Kabelbinder erschienen als Botschafter unbekannter Dimensionen in Theorien, und Stahlrohr-Gartenmöbel gerieten zu Umweltbedingungen, unter denen sich das Bewusstsein des Publikums in bisher völlig unbekannter Weise entwickelte.
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Feierabend!, ruft mir eine der Schwestern zu, jetzt ist aber wirklich Schluss mit dem Handeln. Hopp, hopp! Wenn wir brav sind, dürfen wir vielleicht noch ein bisschen aus unserer Geschichte erzählen, damit wir den Zusammenbruch unseres Systems besser verdauen, aber dann wird schnellstens geträumt. Gut, sie kapierts nicht, aber ich kenne den Trick. Ich sage: Das System sind wir. Schon rennen alle wie irre durcheinander. Eine Schwester fühlt meinen Puls, eine andere ruft, dass man an der Frequenz eigentlich sehen müsste, falls meine Geschichte zu Ende geht.
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Bitte, ich habe mir heute den Herrn eingeladen. An ganz oben wandte ich mich, an den Kopf. Herr, geh ein in unser Oberstübchen, wir flehen dich an! Der alte Herr mit dem weißen Bart ist schon in der Kuppel. Er will jetzt, nach tausenden von Jahren, endlich mit uns reden. Tag, Herr Gott, seid Ihr da? Uns war, als hätten wir ein himmlisches Räuspern vernommen. Wir können den kleinen Finger, den Ihr uns reicht, nicht sehen. Die Sinne, die wir von Euch geschaffen bekommen haben, sind zu mickrig für derlei Größen. Aber Ihr hört uns, stimmts? Bitte? Ihr seid immer nur mit einem Ohr dabei, beim anderen geht das Vernommene wieder raus, weil die Energie immer dieselbe bleibt? Von daher also das Sausen im Walde! Guten Tag, ja, wir sind alle da. Kommen wir zum Thema: Es heißt, Ihr habt das Script für die Weltgeschichte verfasst? Ihr wünscht euch aktive Lesende? Hm, habt ihr schon euer erstes Wort gesprochen? Ist Euer Wort hier irgendwie untergegangen? Und war es, falls ja, wirklich nur ein einziges Wörtchen? Man munkelt ja, es wäre eine Lüge gewesen, des Inhalts, wir müssten sterben, wenn wir vom Baum der Erkenntnis kosteten. Dann naschten wir doch. Was soll man sagen. Ein paar Bissen, und wir merkten, dass uns der Apfel guttat. Ihr habt gelogen! Der Autor ist tot, schrieben wir. Wir, Eure Spiegelbilder. Wir haben nie, schrien wir, ein Sterbenswörtchen von irgendeiner Tödlichkeit irgendeines blöden Apfels gesagt. Nehmt nicht alles wörtlich! Das sind hier alles nur Metaphern, Gleichnisse. Es geht hier ausschließlich um Literatur, um Poesie. Ihr müsst lernen, uns zu interpretieren. Ihr habt uns in Bezug auf den Konsum völlig falsch verstanden. Wir lieben ihn. Aber ihr hattet vor dem Essen doch alles, was ihr brauchtet. Im Paradies war kein Stoffwechsel nötig. Warum dieser Apfel? Warum die vielen Äpfel in der Dichtung? Na, und es stimmte ja auch: Vorher mussten wir nichts zu uns nehmen. Jetzt dauernd der Hunger. In letzter Konsequenz verwarfen wir die Idee des Paradieses. Passte nicht mehr. Wahrhaftigkeit ist das Kapital des Autors. Wir aßen unser Brot unter Tränen. Im Schweiße unseres Angesichts erdichteten wir das Jenseits, um den Kram ein Leben lang durchzuhalten. Wir lasen den Text der Apokalypse, der geschrieben worden war, damit wir wieder zeit unseres Lebens zum allwissenden Autor beteten. Wir schrieben die Geschichte ab, immer wieder. Dann plötzlich, gestern, die Enthüllung: In dem Script wurden Fliegenschisse entdeckt: Nicht Apfel – Aleph steht da geschrieben! Mensch, jetzt müssen wir alles neu interpretieren. Wir haben ja auch, da es ernst wird, gar keine Lust mehr auf Apokalypse. Was meint Ihr? Schöpfer? Bitte? Na, das ist ja nicht gerade viel. Danke dennoch für das Selbstgespräch.
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Leute, seit einiger Zeit stapeln sich die Scheine in den Banken. Niemand will sie mehr haben. Ja, neuerdings tut man fast schon so, als wären sie nichts. Die Währung verschwimmt in ihrer Bedeutung des Bleibens, die früher mit Gleichungen in Zusammenhang stand. Wenn das Zeug nicht schnell in Umlauf kommt, wird es uns noch liquid. Hm, ich schlage jetzt einfach mal vor, diese Entwicklung noch zu beschleunigen. Ich will essbares respektive kompostierbares Geld aus Oblatenblättern erzeugen. Manna, Manna! Die Zweigstellen werden es lieben. Bald werden Bäume auf den Blättern wachsen. Es sind so schöne Blüten. Ich lade Ihnen hier auch gleich Anleitungen für die Herstellung von DIY-Druckern ins Netz. Damit können Sie ab sofort alle Ihr eigenes Geld produzieren. Je mehr kompostierbares Geld gedruckt wird, desto reicher an Humus wird das Land, desto mehr Früchte trägt es. Frage: Schwankt das von uns hergestellte Geld in seinem Wert? Antwort: Ja, der Wert verändert sich, je nachdem, ob es Äpfel oder Birnen trägt.

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PS: Es geht immer ums Moos[viii] (die Großeltern waren dieser Meinung). Abmoosen (Verdoppelung der Blüten durch Teilen): Schneiden Sie die Monstera unterhalb eines Blattknotens ein. Binden Sie einen mit feuchtem Moos gefüllten Plastikbeutel – Geldbeutel, Beutel zur Aufbewahrung von Moos! – um die Schnittstelle, damit sich die Quelle Ihres zukünftigen Vermögens nicht wieder schließt. Sobald sich an der Monstera Wurzeln gebildet haben, welche die Pflanze – englisch plant = Fabrik – am Standort verankern, kann das neue Exemplar abgeschnitten und auf die – ja, sagen wir es ruhig! – Blumenbank gegeben werden. Fabric, fabric, der Stoff (bei uns: der Stoff der Geschichte) … Das alles könnte von Bedeutung werden.
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[i] Englisch für Flöhe
[ii] Amerikanisch für Dollar
[iii] Wodka = Wässerchen
[iv] Eau de vie = frz. Lebenswasser
[v] Von französisch franc für freimütig; vgl. dazu die Wendung frank und frei.
[vi] Der Fünfliber ist ein Fünffrankenstück. Der Livre ist die frz. Einheit der alten Silberwährung und auch die Übersetzung für das Pfund (siehe dazu die Abkürzung Lb = libra = Waage; daher das Symbol £ für das Pound / Pfund = das Gewogene). Auch die liberté, die Freiheit, schwingt hier irgendwie mit. Und: In türkischen Redewendungen ist die Leber, engl. liver, das, was in deutschen Redewendungen das Herz ist. Ach, Flo, du hast mir meine Leber gestohlen …
[vii] Vgl. dazu frz. parler = sprechen
[viii] Das Moos, ein Wort, das anstelle von Geld verwendet werden kann, stammt von mittelhochdeutschen mos, das Moos oder Sumpf bedeutet und mit dem Moder verwandt ist.